Zeichnen: Linien ziehen, die so tun als ob...
Als ob sie etwas Fernes zurückholten, etwas noch nicht Definitives in die Zukunft hineindeuteten. Als ob sie etwas Bestimmtes formten... BG

(...) in den Zeichnungen von Béatrice Gysin begegnen wir dem Ungewissen. Ihre Zeichnungen sind gewissermassen Kartographien des Ungewissen, des Unwissbaren, Unkartographierbaren. Ein wunderbares Paradoxon: eine Kartographierung ist der Versuch, alles Ungewisse aufzuheben. Bzw es auszulöschen – durch Erkenntnis, durch exakte Messung. Bei Béatrice Gysin ist es eher ein Unterfangen, um das Ungewisse zu manifestieren, einzufangen, zu würdigen. (...) Fast immer haben die Zeichnungen aufgrund ihres feinen, akkuraten Strichs etwas beinahe Wissenschaftliches. Die Art, wie Béatrice Gysin zeichnet, wirkt sehr genau und präzise. Das hat nichts Zufälliges und schon gar nichts Emotionales, aus dem Moment heraus. Sondern das sind sehr bewusst und sorgfältig gesetzte Zeichnungen – die dennoch uneindeutig und offen wirken. Es könnte so sein – es könnte aber auch ganz anders sein. Wenn es Landschaften sein sollten, die Béatrice Gysin hier zeigt, dann sind es Landschaften des Möglichen. Landschaften, die sein könnten. (...) In einigen der Zeichnungen arbeitet die Künstlerin mit Farbpuder, der sparsam und vorsichtig auf das Papier gebracht, eingearbeitet wird. Es sind verhaltene Farben. Nichts Grelles, nichts Buntes. Ein Grün an der Grenze von Tag und Nacht, ein rötlicher Ton. Farben, die kaum noch als solches zu erkennen sind. Bilder an der Grenze des Wahrnehm­baren.

ALICE HENKES, AUS DER ANSPRACHE ZUR AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG NOVEMBER 2024

(...) Nichts lässt vermuten, dass Gysin hier neues Terrain präsentiert, indem sie zwei Stränge ihrer jahrzehntelangen Arbeit verschmelzen lässt: Die typischen Bleistiftlinien vermischen sich mit den Feldern der Farbstiftarbeiten, die fast wie Aquarelle anmuten (...). Gysin griff im Prozess auf Schwarz-Weiss-Zeichnungen von früher zurück, die beim Atelierumzug zum Vorschein kamen, und rieb langsam Farbstiftstaub ein. Die dezent farbigen Strukturen scheinen einmal vor, einmal hinter den bestehenden Linien zu liegen, was eine rätselhafte Räumlichkeit erzeugt.

ADRIAN DÜRRWANG, AUS DER BESCHREIBUNG IM KUNSTBULLETIN 12/2024

«Kaléidoscope» im Centre Pasquart, 4. 7. – 6. 9. 2020: Béatrice Gysin stellt kleinere Zeichnungen und Objekte den 17 Heliogravuren aus Markus Raetz’ Portfolio Ombre (2007) gegenüber. Sorgfältig wählte die Künstlerin bestehende Arbeiten aus ihrem eigenen Archiv aus, in denen sie Parallelen, Ähnlichkeiten oder Wahlverwandtschaften zu Raetz’ grafischer Arbeit fand. Installativ auf Tischen präsentiert, bildet die Kombination einen Kontrast, doch die Frage nach dem Sehen begleitet beide Kunstschaffenden, welche die tägliche, zur Routine gewordene Wahrnehmung mit ihren Werken hinterfragen. Entstanden ist ein stiller und poetischer Raum, der einlädt, den Blick über zeichnerische Texturen und hügelige Landschaften von Alabaster schweifen zu lassen, den präzisen Linien zu folgen und Formen, die immer wieder auftauchen, zu entdecken. Die Gegenüberstellung fordert von den Betrachter*innen ein intensives Hinsehen, in dem erst sich Narrationen, Entsprechungen oder sinnliche Begegnungen eröffnen können.

Stefanie Gschwend, Kunsthaus Centre d’art Pasquart

Zu Beginn gibt es weder Koordinaten noch Höhenlinien. (Das heisst: kein Nord, Süd, Ost, West.) Eine Fläche namens Null. (Nichts ist da. Alles ist da.) // Eine Farbe bricht die Fläche. Eine Farbe über der Farbe. Eine Farbe über der Farbe über der Farbe. Eine Kante. (Die Möglichkeit des Fallens. Die Möglichkeit des Fliegens.) // Es gibt Erhebungen, Vertiefungen, doch es gibt keinen Massstab, keinen Vergleich. (Millimeter, Kilometer und so fort.) Es könnte sein: Stufen, Schatten, Schichten. Abgelagerte Zeit. // Und immer wieder: die vagen Ränder. Dort, wo nicht klar ist, ob etwas endet oder ob etwas beginnt. // Verborgen: das Verlorene, Vergessene, noch nicht Erfahrene vielleicht. // Das Verhältnis zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Von aussen nach innen oder von innen nach aussen. (Vermut­lich gibt es eine Landschaft im Innern des Schnees. Ähnlich der Landschaft im Innern eines Steins, der Landschaft im Innern eines Baums.) // Vom Faustkeil auf den Fels schliessen. Oder vom Fels auf den Faustkeil. (Das heisst: Es gibt Begrün­dungen, aber keinen Beweis.) // Eine Farbe weitet die vagen Ränder aus. Die Farben über der Farbe verändern die Höhen, die Tiefen. Kanten, die sich ebnen. Mulden, die erst jetzt entstehen. // Das Verlorene hat eine Länge, eine Breite, eine Tiefe. (Die Suche nach dieser Länge, dieser Breite, dieser Tiefe.) // Die Bewegungen der Farben. Vielleicht gibt es Geräusche hinter den Bewegungen der Farben. // Das Archiv der Vermutungen. // Eine geordnete Sammlung dessen, was nicht sicher ist. (Sortiert nach Alphabet, nach Länge, Breite, Tiefe, nach Farbe, nach Vagheit der Ränder zum Beispiel.)

Bettina Wohlfender, im Katalog «Archiv der Vermutungen»,
Museum Franz Gertsch, 2016

Zur Werkgruppe «Notate»: Die Künstlerin skizziert gerne vor Ort in ( ) Museen. ( ) Plötzlich fiel ihr auf, dass sie zeichnend doch oft von denselben Details und Auffälligkeiten angezogen wurde und diese herausgriff – Aspekte der Kleidung, einer Geste, Symbole – und dass sie dabei das Gefühl hatte, dass es sich um Ikonografien, gewisse Codes handelte, die wir heute gar nicht mehr zu lesen imstande wären. Was konnten die Betrachter der damaligen Zeit hier erkennen und herauslesen? Was bleibt uns heutigen Betrachtern verborgen? Wieder hinter­fragt Gysin zeichnerisch die sichtbare Welt – transferiert in fragilge Werke, bei denen der Bleistiftstaub auf dem fachmännisch karierten Papier sitzt. ( ) Wieder wird das Nichtwissen thematisiert, das Schwimmen in den Vermutungen – hier beim Zeichnen unbekannter Dinge. ( ) «Ich weiss, dass ich nicht weiss» – das geflügelte Wort der Antike, von Cicero Sokrates in den Mund gelegt, vermag vielleicht am zutreffendsten die bei reiflicher Betrachtung episdemologischen und potenziell auch weisen Arbeiten von Béatrice Gysin zu charakterisieren, die dasjenige hinterfragen, was wir zu sehen und zu wissen meinen.

Anna Wesle, Ausschnitt aus Katalogtext «Archiv der Vermutungen»,
Museum Franz Gertsch, 2016

Béatrice Gysins Zeichnungen sind Verortungen der Präsenz der Zeichnerin, in letzter Konsequenz Flächen ohne erkennbare Bedeutung, oder – wie sie sie nennt – «Topografien intensiv gelebter Ereignislosigkeit». Die Künstlerin verortet ihre Wirklichkeit im Geviert des Zeichenblatts. Wenn etwas Erkennbares angedeutet wird, öffnet sich ein weites Assoziationsfeld. Die Betrachtenden sind konsti­tu­ierender Teil der Arbeit, in dem sie sich auf das Abgleichen von Wahrnehmung mit dem individuellen Erinnerungsfundus einlassen. Die Unschärfe bleibt. Die Fragen sind inspirierender als Antworten. Zeichnungen sollen offene Fragen bleiben. BG